Habermas 2.0 – Strukturwandel der Öffentlichkeit reloaded

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«Strukturwandel der Öffentlichkeit» – da war doch etwas … ja, richtig, 1962, Jürgen Habermas, seine Habilitationsschrift, ein fulminantes Buch, historische Recherchen, soziologische Analysen.

Habermas beschrieb in diesem Buch Öffentlichkeit als eine zentrale Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie im Zuge der Aufklärung entstanden war. Die Entwicklung, wie sie durch die elektronischen Massenmedien angestossen wurde, hatte Habermas ja bekanntlich als einen eigentlichen Zerfallsprozess dieser bürgerlichen Öffentlichkeit beschrieben.

Nun hat sich Habermas wieder zu Wort gemeldet und seine Überlegungen auf das Internet und das Web 2.0 weiterentwickelt:

„Das World Wide Web scheint freilich mit der Internetkommunikation die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen, indem es den Wiedereinzug interaktiver und deliberativer Elemente in einen unreglementierten Austausch zwischen Partner zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren.

Habermas betont auch den grundsätzlichen Wandel, den das Internet ausgelöst hat:

Tatsächlich hat ja das Internet nicht nur neugierige Surfer hervorgebracht, sondern auch die historisch versunkene Gestalt eine egalitären Publikums von schreibenden und lesenden Konversationsteilnehmern und Briefpartnern wiederbelebt. Andererseits kann die computergestützte Kommunikation unzweideutige demokratische Verdienste nur für einen speziellen Kontext beanspruchen: Sie unterminiert die Zensur autoritärer Regime, die versuchen, spontane öffentliche Meinungen zu kontrollieren und zu unterdrücken. Im Kontext liberaler Regime überwiegt jedoch eine andere Tendenz. Hier fördert die Entstehung von Millionen von weltweit zerstreuten chat rooms und weltweit vernetzten issue publics eher die Fragmentierung jenes grossen, in politischen Öffentlichkeiten jedoch gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums. Dieses Publikum zerfällt im virtuellen Raum in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen. Auf diese Weise scheinen die bestehenden nationalen Öffentlichkeiten eher unterminiert zu werden.

Schliesslich bringt Habermas die Sache mit den Öffentlichkeiten und dem Web 2.0 sehr schön auf den Punkt:

Das Web liefert die Hardware für die Enträumlichung einer verdichteten und beschleunigten Kommunikation, aber von sich aus kann es der zentrifugalen Tendenz nichts entgegensetzen. Vorerst fehlen im virtuellen Raum die funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren.

Nachzulesen in: Habermas, Jürgen: Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Frankfurt am Main 2008, S. 161f.

16 Gedanken zu „Habermas 2.0 – Strukturwandel der Öffentlichkeit reloaded“

  1. Pingback: E-Learning-Blog
  2. Danke für den Hinweis auf den Habermas-Text; ist das evtl. eine überarbeitete Fassung seines Vortrags bei der ICA 2006, der in dem Bändchen nachgedruckt wurde? Oder ein ganz neuer Text?

  3. In dem ICA 2006 taucht das Internet ja nur in einer Fußnote auf, deren Inhalt entspricht aber im wesentlichen dem ersten Zitat, die missverständliche Bezeichnung der Bildzeitung als Qualitätsmedium fehlt aber zum Glück 😉

  4. Pingback: viralmythen
  5. so kann man das auch ausdrücken. wg. letztem paragraph: kann jemand Habermas die bücher von David Weinberger und das Read/Write Web blog empfehlen? wahr ist, dass es die eigentlichen diskussionen in deutsch schon deshalb nicht gibt, weil sie eh in englisch geführt werden.

  6. Meine Interpretation:

    Durch das Web kann man sehr schnell und direkt kommunizieren, aber es explodiert vor Information. Vorerst fehlen im Netz noch Strukturen durch die man diese Informationen wieder in den Griff bekommt.

    Naja, so ganz auf dem neuesten Stand ist unser Großphilosoph nicht, denk ich.

  7. „Kommunikative Macht wird ausgeübt im Modus der Belagerung“, aber hoffentlich nicht mehr lange!

    Um unsere „Anschlussfähigkeit“ als Bürger, gegenüber dem Staat wieder zu erlangen, sollte die Legislative, Judikative und Exekutive, durch eine „Kommunikative“ ergänzt werden, um so den formalen Rahmen für einen informellen, „herrschaftsfreien Diskurs“ zu schaffen.

    Mit Hilfe von, unter notarieller Kontrolle stehender EDV-Institute, werden neben den Wahlentscheidungen für eine Partei, auch die Wähler selbst registriert und anonymisiert, (sodass ihre „Stimme“ nicht mehr verloren geht).
    Auch könnte dadurch, dem im GG zugesicherten „geheimen Wahlrecht“, besser entsprochen werden, da über die „Wahlentscheidungen“ der Nichtwähler, nicht mehr wie jetzt noch üblich, durch Abhaken der Wähler, offen Buch geführt werden könnte.
    Durch die „Kommunikative“ entstünden Möglichkeiten für eine Reihe neuer Formen der Beteiligungs-Kultur, wie z.B. dem des Kumulierens von Sachthemenstimmen.
    Durch die Unterfraktionierung der Fraktionen, könnten die Wähler, sowohl die Fluktuation von Themen steuern, wie auch die von Politikern, die sich zu diesen zuvor positioniert haben.
    Ferner sollten sich die Parteien zu ihren eigenen Pro- und Contra-Positionen regelmäßig das Feedback ihrer Wählerschaft geben lassen.

    Ob wir zukünftig etwas als „sozial“ bezeichnen, wird weniger im Zusammenhang von materieller Verteilungsgerechtigkeit stehen, sondern sich daran ermessen, wie „frei, gleich und geschwisterlich“ die Zugänge zu einem „Öffentlichen Diskurs“ gestaltet sind. Es gilt also – strukturell betrachtet – die „asozialen“ Umgangsformen zwischen Bürgern und Parteien zu überwinden. Ferner droht die Gefahr, der falschen Helfer, die sich die richtigen Methoden als Monopol aneignen. Z.B. die bertelsmanstiftung siehe unter:
    http://www.buergerforum2009.de/

  8. Alleine die Tatsache dass hier die Öffentlichkeit mit einem Text aus dem Elfenbeinturm ohne Einschreibung, Studentenausweis und Zentralabitur konfrontiert wird ist doch schon ein Strukturwandel, findet ihr nicht!

  9. Hello, guys. I’m very interested in understanding what Habermas thinks about internet. Unfortunately I don´t either read nor speak german. Would anyone have any material in english related to this matter? Thanks. Marcio Gonçalves – jornalistamarcio@ig.com.br

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