Theo der Pfeifenraucher

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Vor einigen Wochen hat das Naturhistorische Museum Basel die Ausstellung «Theo der Pfeifenraucher» eröffnet. Die Ausstellung zeigt, wie mit Hilfe forensischer und anthropologischer Methoden Aussehen und Leben eines um 1800 verstorbenen Arbeiters rekonstruiert werden können. Das Museum rief die Bevölkerung auf, Bilder oder Dokumente aus der eigenen Familiengeschichte, welche mögliche Hinweise zu «Theos» Berufs- oder Wohnumfeld liefern könnten, direkt dem Museum zu senden. Es trafen einige Hinweise ein, das Museum hat eine umfangreiche Dokumentation online gestellt und nun hoffen wir natürlich, dass die Ergebnisse in einer interaktiven Ausstellung (im Netz?) zugänglich gemacht werden.

7 Gedanken zu „Theo der Pfeifenraucher“

  1. Langsam kommen wir der historischen Person mit dem fiktiven Namen „Theo“ näher. Neben den Recherchen zu den Beerdigungsregistern im Staatsarchiv Basel-Stadt haben uns die Isotopenanalysen seitens der Universität von Bristol einen wesentlichen Schritt weitergebracht. Inzwischen sind acht internationale Institutionen aus den Fachereichen der Anthropologie, Archäologie und Archäometrie aktiv beteiligt. Weitere Resultate werden in nächster Zukunft greifbar sein.
    Aktueller Identifikationsstand: „Nur“ noch 81 „32- bis 42jährige Männer“ stehen in der inneren Auswahl und auch diese sollte bald kleiner werden. Eine Identifikation liegt im Bereich des Möglichen.
    Uns geht es aber bei „Theo“ nicht allein um eine Identifikation. Als physische Anthropologen liegt uns sehr an einem Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Sozialgeschichtliche und demographische Fragestellungen stellen in der physischen Anthropologie ein zentrales Anliegen dar. Neben den naturwissenschaftlichen Analysen interessieren uns daher Themen, wie das berufliche- und soziale Umfeld von „Theo“. Hier wäre eine Unterstützung/Zusammenarbeit seitens der Geschichtsforschung sehr wünschenswert (Voraussetzung: eine erfolgreiche Identifikation liegt vor).
    In einer Publikation werden die umfangreichen Recherchen zu Theo zusammengefasst.
    „Theo“ könnte für ein geschichtsinteressiertes Laienpublikum zu einem Link zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit werden und so einen spannenden Zugang zum 19. Jahrhundert des minderen Basels ermöglichen.

    Am Vorabend zur Finissage „Theo, der Pfeifenraucher“

    Gerhard Hotz
    Projektleiter der interaktiven Ausstellung

  2. Ich finde das Projekt „Theo der Pfeifenraucher“ aus zwei Gründen faszinierend. Zum einen befassen sich die Untersuchungen mit einem Zeitraum, der für uns scheinbar so nahe liegt und daher die Geschichte dieser Zeit meist nur in „den grossen Zügen“ erklärt wird (Revolution(en), Bürgertum, Nationalstaatenbildung, Industrialisierung, Imperialismus etc.). Dabei gehen jedoch die „Geschichten verloren,“ in denen der Mensch und sein direktes Umfeld, seine Beziehungen, seine Möglichkeiten sichtbar werden. Dies (be)trifft v.a. den „gemeinen Mann“, also die „Du und Ichs“ des 19. Jh., die oft nur als statistische Mittelwerte in Erscheinung treten. Hier geht der Ansatz des Prokjekts Theo der Pfeiffenraucher einen anderen Weg: Vom anonymen Individuum aus wird gedacht, ihm soll ein Gesicht und eine Geschichte gegeben werden.
    Dabei soll es aber nicht bleiben, denn das Projekt stellt den Anspruch, neues Licht auf den Lebensraum Basel im 19. Jh. ganz im Allgemeinen werfen zu wollen. Hierzu braucht es aber fächerübergreifende Zusammenarbeit und genau diese stellt, meiner Ansicht nach, den zweiten faszinierenden Aspekt dieses Projekts dar: Über den eigenen (fachlichen) Tellerrand blicken, die Zusammenarbeit mit anderen suchen, um von der gegenseitigen Inspiration zu profitieren und damit die Geschichte, mit „anderen Augen“ betrachtet, vollständiger schreiben zu können.

  3. Das ganze erinnert mich ein bisschen an das spannende Buch von Alain Corbin: „Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewo?hnliches Leben““, ISBN 3-593-36175-2 (frz.: Le monde retrouvé de Louis-Franc?ois Pinagot).

  4. Um auf die interessante Anmerkung von Ladislaus einzugehen: Bei der Ausstellungskonzeption war uns dieser Ansatz seitens der Geschichtsforschung noch nicht bekannt. Erst im Verlauf der Diskussionen, wie das Projekt während und nach der Ausstellung weitergeführt werden soll, hat uns Fabian Link, Mitinitiator der Ausstellung, auf die Publikation von Alain Corbin aufmerksam gemacht.
    Inzwischen sind wir unserem Ziel einer fächerübergreifenden Zusammenarbeit bedeutende Schritte näher gekommen. Als Vorgabe hatten wir uns die Auswertung dreier komplett unterschiedlicher Quellengattungen zum Ziel gesetzt:
    – das menschliche Skelett, mit seinen „bio-archivalischen“ Informationen zu verschiedenen Aspekten eines individuellen Lebenslauf: Gesundheit, Ernährung, Arbeits- und Umweltbelastung, Aussehen, Herkunft u.a..
    – die schriftlichen Quellen mit den daraus resultierenden Forschungsschwerpunkten: Sozialgeschichte und Demographie
    – das reiche Bilderbe Basels des 18. und 19. Jahrhunderts mit sozialkritischen Bildanalysen
    Mit Prof. Kaspar von Greyerz konnten wir eine kompetente Person für Aspekte der Sozialgeschichte gewinnen. Die sozialkritischen Bildanalysen werden von Prof. Lucas Burkart vom Historischen Seminar der Universität Luzern geleitet. Als weiteren Erfolg, darf die durch Alfred und Karin Schweizer durchgeführte vollständige Erfassung des Beerdigungsregisters der Theodorskirche (10. Oktober 1779 bis 27. April 1833, 4334 verzeichnete Todesfälle) genannt werden. Inzwischen laufen die Datenerfassungen des Taufregisters auf vollen Touren.
    Im Projekt „Theo der Pfeifenraucher“ sollen die unterschiedlichen Quellengattungen methodenkritisch analysiert und die Resultate in einer allgemeinverständlichen Publikation zum sozialen Umfeld Theos in Kleinbasel des beginnenden 19. Jahrhunderts verdichtet werden. Wir hoffen damit, ein interessantes Kapitel der Basler Stadtgeschichte anfügen zu können.

    Im Namen des Theo-Teams
    Gerhard Hotz
    Projektleiter

  5. Ich möchte kurz auf den Hinweis von Ladislaus und die Erwiderung darauf von Gerhard Hotz bezüglich dem Buch von Alain Corbin „Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewo?hnliches Leben“ eingehen. Corbins pionierhafter Versuch, den Namen eines einfachen Mannes aus einer Archivkartei herauszupicken und dessen Leben zu rekonstruieren, ist ihm nur begrenzt gelungen. Sicher können gewisse Aspekte der Lebensumstände rekonstruiert werden, sofern der Beruf und der Familienstand bekannt sind. Die Einbettung eines einfachen Menschen in seine Zeit ist aber meist nur möglich, indem diejenigen Quellen ausgewertet werden, die eben nicht von den einfachen Menschen stammen, sondern von Leuten aus der oberen Schicht (z.B. Pfarrer, Lehrer etc., also von Schreibkundigen) aus deren Perspektive die Schriftquellen verfasst wurden. Das Problem ist: Wenn keine schriftlichen Unterlagen über eine Person existieren, so bleibt sie meistens stumm, was in der Mehrzahl der Fälle Tatsache ist. Eine Möglichkeit ergibt sich aus den Rechtsquellen, wie Michel Foucault oder Carlo Ginzburg dies gezeigt haben (vgl. Foucault, Michel (Hrsg.): Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz, Frankfurt/M. 1975 und Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, 6. Aufl., Berlin 2007). Anhand von Inquisitionsakten, in denen die Aussagen eines angeklagten Müllers aufgezeichet wurden, gelang es Ginzburg, sich der Person des Müllers namens Menocchio anzunähern.
    Das Projekt „Theo, der Pfeifenraucher“ zeigt nun eine weitere Möglichkeit auf, wie Informationen über einen einfachen, in den historischen Quellen nur schwer fassbaren Menschen, generiert werden können, nämlich mittels der Anwendung von naturwissenschaftlichen Methoden der Anthropologie und der biochemischen Analyse. Damit können körperliche Gebrechen, das Sterbealter oder Laster wie das Pfeiferauchen sicher bestimmt werden. In Verbindung von Naturwissenschaften und Methoden der historischen Demographie können nun mithilfe des (noch vorhandenen) Sterberegisters der Kirchgemeinde zu St. Theodor Personengruppen ein- oder ausgegrenzt werden, die als mögliche „Theo“-Kandidaten in Frage kommen. Die Einbettung der Person in die Sozialgeschichte Kleinbasels ist dann der nächste Schritt. Mit der transdiziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Methoden aus Geistes- und Naturwissenschaften ist ein Höchstmass an Informationen zu erwarten, die über einen völlig unbekannten Mann aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erhoben werden können. Insofern kann das Projekt als Erweiterung des Ansatzes von Alain Corbin verstanden werden. Glücksfälle wie Pierre Rivière (Foucault) oder Domenico Scandella genannt Menocchio (Ginzburg), deren Gedanken auf Polizei- und Gerichtsakten ansatzweise festgehalten wurden, sind dagegen eher selten. Ob „Theo“ abergläubisch oder Anhänger einer bestimmtem religiösen Richtung war, wird das Forschungsteam wohl nicht entschlüsseln können.

  6. Herzliche Gratulation zum tollen Buch über Theo. Leider ist Theos eindeutige Identifikation (bisher)nicht gelungen. Wären seine Halswirbel vorhanden, wäre die Geschichte vielleicht der Knüller schlechthin geworden!! Trotzdem ist sie enorm spannend.

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