Geschichte und Wikipedia (III) Vergleich 1: Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg

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Im dritten Teil der kleinen Blog-Reihe zu Geschichte und Wikipedia will ich einige Einträge in der Wikipedia und im Historischen Lexikon vergleichen, um die Unterschiede zu veranschaulichen. Anfangen möchte ich mit zwei Artikeln zu einem kontroversen Thema: „Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg“ (Wikipedia), bzw. „Weltkrieg, Zweiter“ (Historisches Lexikon der Schweiz). Natürlich kann an dieser Stelle nur ein mögliches Vorgehen skizziert werden, das zu weiteren eingehenden Überlegungen anregen soll, wei solche Vergleich angestellt werden können.

Anmerkungen zum Verfahren

Bei einem solchen Vergleich stellt sich gleich zu Beginn die Frage, ob ein Verfahren des Vergleichs ermittelt werden kann, das sich ohne allzu grosse Vorkenntnisse anwenden lässt und sich zur Analyse verschiedener Artikel eignet. Eine rein inhaltlicher Vergleich lässt sich nämlich nur dann verlässlich ausführen, wenn die Leserin oder der Leser über ausreichende Kenntnisse des verhandelten Sachverhalts verfügt. Aber in der Regel konsultieren wir Lexika, weil wir eben nicht genügend über einen Sachverhalt wissen. Andererseits reichen rein formale Kriterien (wie sie in der Folge vorgestellt werden) auch nicht für einen aussagekräftigen Vergleich aus. Es wird darum gehen müssen (und dieser Beitrag kann in dieser Hinsicht nur ein erster Versuch sein), sich nicht von der Vielzahl abweichender Details verwirren zu lassen (deren Bedeutsamkeit nicht nur schwer zu ermitteln, sondern oftmals selbst in der Fachwelt umstritten ist), sondern das zur historischen Orientierung und Einordnung notwendige Kontext-Wissen in einer sinnvollen, generalisierbaren Form für den Vergleich nutzbar zu machen.

Analyse der Wikipedia-Daten

Zunächst sei das Augenmerk auf eine Analyse gerichtet, die deshalb interessant ist, weil sie sich die maschinenlesbar und öffentlich vorliegenden Metainformationen der Wikipedia-Artikel zunutze macht: wikibu.ch. Wir haben dieser Projekt hier bereits vorgestellt und gewürdigt: Die Analyse beruht auf einfachen (wenn auch streitbaren) Prämissen (Anzahl User, Anzahl Autor/innen, Anzahl Verlinkungen, Anzahl Quellen) und erhebt nicht den Anspruch, mehr als Anhaltspunkte für eine weiter gehende Untersuchung des fraglichen Artikels zu bieten. Für den uns interessierenden Artikel erhalten wir folgendes Resultat:

  • Der Artikel erhält 3 von 10 Punkten, dabei sind die Rubriken „Nutzer/innen“ und „Autor/innen“ mit 4, bzw. 5 Punkten sehr hoch eingestuft, die „Anzahl Verlinkungen“ mit 3 und vor allem die „Anzahl Quellen“ mit 1 Punkt jedoch vergleichsweise schwach.
  • Drei der vier Hauptautoren, die Wikibu.ch identifiziert, befassen sich (wie ein Blick auf die anderen Artikel zeigt, bei denen sie massgeblich mitgewirkt haben) vor allem mit Militärgeschichte. Daher kann es auch nicht verwundern, dass der Text sich vor allem mit der Militärgeschichte der Schweiz im 2. Weltkrieg befasst (2045 von total 5439 Worten).

Die Erkenntnisse über die Autor/innen führen zu weiteren, manuellen Recherchen über die Entstehung des Beitrags, die dank der Versionsgeschichte von Wikipedia möglich sind. So lässt sich ermitteln, dass im Jahr 2009 die einzige bedeutsamere Änderung die Einfügung einer Anmerkung am Anfang des Textes war, mit der Lückenhaftigkeit des Textes angezeigt wird. Ansonsten werden seit Jahren nur noch an einzelnen Textstellen kleine Änderungen vorgenommen. Der letzte Eintrag, der länger als ein Satz war und nicht wieder rückgängig gemacht wurde, stammt vom 14. August 2008, er beschreibt die bereits vor dem Krieg geschlossenen militärischen Vereinbarungen zwischen Frankreich und der Schweiz.

Der Kern des Artikels wurde im Jahr 2006 eröffnet und in seinen Hauptzügen erstellt, davon zeugt auch die Diskussionseite. Dort wird auch deutlich (gerade wieder jüngst), dass zwar Unzufriedenheit über die Inhalte und die Struktur des Eintrags auftauchen, die gewünschte Überarbeitung aber zumeist am Zeitaufwand der Aufgabe scheitert (die nicht nur das Umschreiben, sondern auch das Überzeugen des Hauptautors der jetzigen Version umfasst).

Diese Analyse könnte noch weiter geführt werden, ich lasse es aber damit bewenden, denn sie ist für den Vergleich mit dem HLS-Artikel nicht hilfreich. Dort sind die Informationen über die Entstehung des Artikels nicht nur nicht verfügbar; sie hätten, aufgrund des Entstehungsprozesses, auch einen gänzlich anderen Charakter. Aus dem gleichen Grund sind auch die Kriterien von wikibu.ch (die ja auch schon im Hinblick auf ihre Validität zur Beurteilung von Wikipedia-Artikeln diskutabel sind) für die Analyse eines HLS-Beitrages, sofern dies möglich wäre, nur von beschränkter Aussagekraft. Die automatisierte Analyse des wikibu.ch-Projektes nimmt in Anspruch, dass sich durch die abgefragten Parameter Schlüsse auf die Qualität des Artikels ziehen lassen, weil es von der Grundannahme ausgeht, dass eine hohe Aktivität bei einem Wikipedia-Artikel zu seiner Güte beiträgt. Eine solche Vorannahme wird man für einen HLS-Artikel wohl kaum treffen wollen.

Vergleich von Gliederung und Umfang

Ich möchte ein anderes Vorgehen vorschlagen, nämlich einen Vergleich der Gliederung der beiden Artikel, verbunden mit der Menge an Worten für die jeweiligen Gliederungsabschnitte. Das sieht dann für den Wikipedia-Artikel wie folgt aus:

Wikipedia (14.5.2009)

WC

(Einleitung)

98

1 Die Schweiz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges

1.1 Politik

43

2 Die Schweiz während des Zweiten Weltkrieges

2.1 Allgemein

152

2.2 Regierung während des Kriegs

265

2.4 Todesstrafen

194

2.5 Anrainerstaaten der Schweiz

159

2.6 Die Armee (Einleitung: 41 Wörter)

2.6.1 September 1939 (359 Wörter)

2.6.2 Mobilmachungsaufstellung (131 Wörter)

2.6.3 Oktober 1939 (11 Wörter)

2.6.4 Dezember 1939 (65 Wörter)

2.6.5 Januar 1940 (33 Wörter)

2.6.6 Frühjahr 1940 (743 Wörter)

2.6.7 1941 (82 Wörter)

2.6.8 Aufträge während der Réduit-Besetzung (146 Wörter)

2.6.9 Luftraumverletzungen (419 Wörter)

2030

2.7 Kriegswirtschaft

390

2.8 Asyl- und Flüchtlingspolitik

576

2.9 Die Schweiz als Devisenumschlagplatz

50

3 Die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, Aufarbeitung

3.1 Aussenpolitisch (65 Wörter)

3.2 Bundesrat (113 Wörter)

3.3 Wirtschaft (54 Wörter)

3.4 Aufarbeitung (208 Wörter)

448

Word-Count Gesamtartikel

4381

Und für den HLS-Artikel so:

HLS (12.12.2007)

WC

Einleitung, kein Autor

392

1 – Militärische Lage, Hans Senn

1.1 – Erste Generalmobilmachung (261 Wörter)

1.2 – Zweite Generalmobilmachung (385 Wörter)

1.3 – Ausharren (322 Wörter)

1.4 – Rüstung und Truppen (356 Wörter)

1.5 – Die militärisch betroffene Schweiz (172 Wörter)

1496

2 – Aussenpolitik, Mauro Cerutti

1018

3 – Innenpolitik, Georg Kreis

923

4 – Wirtschaft, Martin Meier

1220

5 – Soziales, Lucienne Hubler

469

6 – Flüchtlinge, Mauro Cerutti

514

7 – Kultur, ohne Autor

929

8 – Historiografie und Debatte ab 1945 (Total: 1109 Wörter /Einleitung: 163 Wörter) – ohne Autor

8.1 – Erste Aufarbeitung 1945-1975 (268 Wörter), ohne Autor

8.2 – Kritische Töne 1975-1995 (248 Wörter), Georg Kreis

8.3 – Die Schweiz im Visier – Die Diskussion seit 1995 (430 Wörter), Andreas Schwab

1109

Word-Count Gesamtartikel

8906

Erläuterungen

Auch wenn die Tabellen schon für sich selbst sprechen, sollen sie hier kurz erläutert werden. Betrachten wir zunächst die Parallelen. Beide Artikel behandeln im Wesentlichen die gleichen Themen: zunächst die militärische Lage, bzw. das Militär, die Wirtschaft, die Flüchtlingspolitik, die Innenpolitik und die Auseinandersetzung mit diesem Abschnitt der Schweizer Geschichte. Beide messen dabei der militärischen Lage (naheliegenderweise) ein besondere Gewicht bei.

Interessant sind die Unterschiede, die ein Licht auf die jeweiligen Erstellungsbedingungen werfen. Zunächst (und das ist für Wikipedia-Beiträge eher untypisch) ist festzustellen, dass der Beitrag nur etwa halb so lang wie jener im „Vergleichsprodukt“ HLS ist.  Wikipedia-Artikel zeichnen sich sonst eher durch Ausführlichkeit aus. Angesichts dieser Feststellung ist einleuchtend, dass im Wikipedia-Artikel Abschnitte zur Sozial- und Kulturgeschichte, vor allem aber zur Aussenpolitik fehlen, sofern nicht die Abschnitte „Todesstrafe“ oder „Anrainerstaaten“ darunter subsumiert werden sollen. Diese Auslassung irritiert umso mehr, als einige Detailfragen relativ viel Platz einnehmen, sei es durch grossen Umfang oder eigene Zwischentitel. Auch die Trennung von „Kriegswirtschaft“ und „Die Schweiz als Devisenumschlagplatz“ bleibt unverständlich. So liessen sich noch einiger Ungereimtheiten aufzuzählen, die bereits in der genauen Betrachtung der Gliederung und des Umfangs der Abschnitte ersichtlich werden, hier sei abschliessend nur noch darauf hingewiesen, dass die Schilderung der Luftraumverletzung beinahe soviel Platz zugesprochen erhält wie die Flüchtings- und Asylpolitik.

So stellt sich beim Wikipedia-Artikel nicht so sehr die Frage nach der „Richtigkeit“ der Aussagen, sondern nach der Gewichtung und Anordnung bei der Präsentation. Dies wird selbst im wichtigsten Abschnitt, zum Militär, schon nur beim Betrachten der Gliederung deutlich: Letztlich beschränkt sich die Darstellung auf eine sehr unausgewogene (die drei fettgedruckten Einträge machen mehr als die Hälfte des Umfangs aus) , mit Listen und Tabellen versetzte Chronologie, die dem Leser oder der Leserin nur Fragmente der militärischen Lage darzulegen vermag. Dass die Chronologie ein zentrales Element in diesem (und vermutlich auch anderen) Wikipedia-Artikel ist, zeigen auch die Kurzabschnitte „Die Schweiz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs“ und „Die Schweiz nach dem zweiten Weltkrieg“. Diese Inhalte könnten (wie beim HLS-Artikel) auch zu Beginn und Ende der jeweiligen thematischen Abschnitte einfliessen. Die „feinen“ Unterschiede bei der Bewertung benötigen allerdings eine genauere inhaltliche Analyse – etwa bei der jeweiligen Einschätzung der Flüchtlings- und Asylpolitik. Hier ist jedoch anzumerken, dass andere Personen diesen Abschnitt geschrieben und entwickelt haben als jene über die militärische Situation. Dennoch hat sich ein revisionistischer Unterton in die Darstellung des gesamten Artikels eingeschlichen.

Bemerkenswert beim HLS-Artikel: zwei Abschnitte sind nicht mit Nennung der Autoren versehen, wobei nicht ersichtlich wird, weshalb gerade jene Abschnitte keinen Autorennachweis erhalten haben.

Literatur

Zuletzt möchte ich noch einen Blick auf die zitierte Literatur in den beiden Beiträgen werfen.Wie sind die Literaturangaben gegliedert und wieviele Titel werden aufgeführt?

Wikipedia:

  • Allgemein: 9
  • „Bergier-Bericht“: 2
  • Flugzeuge, Luftraum: 2
  • Armee: 3
  • Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg: 2
  • Kritische Stimmen: 4
  • Total Titel: 22

HLS:

  • Allgemein: 7
  • Militärische Lage: 6
  • Aussenpolitik: 5
  • Innenpolitik: 4
  • Wirtschaft: 7
  • Flüchtlinge: 6
  • Kultur: 6
  • Historiografie: 4
  • Total Titel: 45

Das Verdikt ist klar: das HLS hat nicht nur eine umfangreichere Literaturliste (wie beim Lauftext etwa doppelt so viel Angaben), sondern gliedert diese konsequent gemäss dem Aufbau des Texts. Dass dies beim Wikipedia-Beitrag nicht so ist, nährt den oft geäusserten Verdacht, dass die Literaturhinweise nicht von den Autor/innen des Lauftexts beigesteuert werden, sondern von Personen, die auf ganz generell auf passende Literatur hinweisen wollen. Entsprechend sind viele der Literaturhinweise aus dem HLS-Artikel auch im Wikipedia-Artikel zu finden.

Einen eigenen Blog-Eintrag verdiente die Rubrik „Kritische Stimmen“. Der Titel eröffnet ein ganzes Feld von Deutungen (gemeint ist wohl „Kritik“ gegenüber der gängigen Lehrmeinung, formuliert aber nur von vereinzelten „Stimmen“), hat aber selber kritisch unter die Lupe genommen zu werden: ein solcher Gliederungspunkt wirkt zwar „aufklärerisch-kritisch“ ist aber gerade das Gegenteil – nicht Ausdruck wissenschaftlich kontroverser Sichtweisen auf die Vergangenheit (diese könnten ja unter dem jeweiligen thematischen Gliederungspunkte eingefügt werden), sondern politisch motivierte (in diesem Fall neokonservative) Versuche, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zu diskreditieren. Hier droht aus der Sichtweise, dass sich Wikipedia ja „nicht an die Wissenschaftler/innen“ wende, ein gefährlicher Kurzschluss zu entstehen, wenn argumentiert wird, auch „Nicht-Wissenschaftler“ mit ihren Standpunkten seien ernst zu nehmen (im Sinne des Neutral Point of View der Wikipedia – einer 21. Jahrhundert-Verballhornung des „audiatur et altera pars“).

Anzumerken bliebe, dass das HLS auch noch drei Quelleneditionen anführt. Dafür bietet der Wikipedia-Eintrag (und das ist wirklich ein Vorteil) Links zu einigen der bibliographierten Dokumenten (Schlussbericht UEK und eine kommentierte, wenngleich veraltete Bibliografie des Bundesamts für Kultur) und auch zu weiteren Websites (darunter zum Artikel des HLS). Solche Funktionen kann das HLS nicht bieten. Dies betrifft jedoch vor allem die Funktion der Artikel als Ausgangspunkt für weitere Recherchen.

Weitere Einträge in der Reihe zu finden beim Einstiegsartikel oder generell mit dem Link „Geschichte und Wikipedia

2 Gedanken zu „Geschichte und Wikipedia (III) Vergleich 1: Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg“

  1. Dann kann man ja jetzt nur hoffen, daß sich dem Artikel in der Wikipedia noch einmal angenommen wird.

    „Hier droht aus der Sichtweise, dass sich Wikipedia ja “nicht an die Wissenschaftler/innen” wende, ein gefährlicher Kurzschluss zu entstehen, wenn argumentiert wird, auch “Nicht-Wissenschaftler” mit ihren Standpunkten seien ernst zu nehmen (im Sinne des Neutral Point of View der Wikipedia – einer 21. Jahrhundert-Verballhornung des “audiatur et altera pars”).“ – das wäre dann aber weitestgehend ein Missverständnis der Autoren gegenüber des Point of View-Gedankens. Wenn solche Sichtweisen von Nichtfachleuten (ich nenne es mal so, man muss nicht zwingend Wissenschaftler sein, um Fachmann für etwas zu sein) gewürdigt werden, müssen diese schon einen nennenswerten Eindruck in der Öffentlichkeit/den Medien/in der Wissenschaft (die allerdings meist im eigenen Saft schwimmt und sich mit Nichtwissenschaftlern gar nicht abgibt – und damit kann man Gedanken von Ausserhalb natürlich auch nicht rezipieren, egal wie gut oder schlecht sie sind) hinterlassen haben. Etwa wenn ein Politiker die Diskussion durch eine (meist unqualifizierte) Äusserung angestossen hat. Oder für Deutsche Verhältnisse: wenn der Nichthistoriker Guido Knopp einmal mehr ein Hitler-Thema findet, dass in noch keiner Miniserie verwurstet wurde. Oder anders gesagt: Dinge müssen nach ihrem Gehalt bewertet werden. Und der Gehalt ist eben zumeist insbesondere in den wissenschaftlichen Arbeiten vorhanden. Aber eben auch nicht nur.

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