Ist Wikipedia für die Öffentlichkeit oder für Academia?

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Nando Stöcklin hat mit einer netten und differenzierten Replik auf die Reflexe-Sendung von Donnerstag reagiert. Darin macht er eine spannende, im Grunde genommen richtige, aber in der Praxis heikle Aussage: «Wikipedia ist ein Dienst für die Öffentlichkeit, kein Dienst primär für Akademiker. Wir sollten die Welt der Wissenschaft und die Welt der Öffentlichkeit deutlich auseinanderhalten.»

Das ist nicht falsch und entspricht – mit dem ersten Teil der Aussage – auch dem, was in der Sendung gesagt wurde. Sie geht dabei aber im zweiten Teil von einer Prämisse aus, die heute, im digitalen Zeitalter, zu überdenken ist: Es gibt, so die Annahme, zwei getrennte gesellschaftliche Systeme, die nicht oder nur kaum miteinander kommunizieren: die gesellschaftliche Öffentlichkeit der Laien auf der einen, die Wissenschaft auf der anderen Seite. Ähnliche Konstruktionen kennen wir auch aus den Bereichen Politik und Medien.

Aber bleiben wir beim Beispiel der Wissenschaft. Davon abgesehen, dass jeder Wissenschafter und jede Wissenschafterin zugleich Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist und, soziologisch gesprochen, immer mehrere Rollen einnimmt – Wissenschaft und Öffentlichkeit waren noch nie getrennte Sphären. Denken wir nur an die öffentlichen Vorträge in der Académie française, die nicht nur wissenschaftliche Höhepunkte (manchmal auch Tiefpunkte), sondern zugleich auch gesellschaftliche Ereignisse waren. In den letzten Jahren hat sich die Diskussion um diese Wechselwirkungen unter dem Schlagwort der Public Understanding of Science ziemlich intensiv mit diesen Fragen befasst. Nachzulesen ist das einführend übrigens bei Peter Weingart, dem Doyen der deutschsprachigen Wissenschaftsforschung in seinem sehr lesenwerten Buch «Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit» (Weilerswist 2005).

Mit dem digitalen Wandel – so zumindest meine These – ist die schon bisher sehr durchlässige Grenze zwischen den beiden Bereichen «Öffentlichkeit» und «Wissenschaft» noch durchlässiger geworden. Die wissenschaftlichen Produktionsstätten sind dank öffentlichen Plattformen wie zum Beispiel H-Soz-u-Kult transparenter geworden, der Druck, die Ergebnisse der Forschung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist gestiegen (Stichwort: Public History).

Der «Geschichtsmarkt» (Dieter Langewiesche) ist dadurch zunehmend komplexer geworden, die Öffentlichkeit zugleich disparater. Die akademische Geschichtsschreibung mit einem vorwiegend innerwissenschaftlichen Zielpublikum stellt auf diesem Markt nur einen Bereich unter mehreren dar. Dadurch, dass Wikipedia in Academia längst schon Einzug gehalten hat, wie ja auch in der Sendung gesagt wurde, ist es wenig sinnvoll, an einer künstlichen Trennung von Wissenschaft und Öffentlichkeit festzuhalten.

Viel interessanter scheint mir die Frage, wie Wikipedia mit dieser Scharnierfunktion umgeht und wie weit dieser Wandel den Wikipedianern – und natürlich auch den Bewohner von Academia – bewusst ist.

Bild: Académie francaise von heedoo auf flickr (cc-by-nc-sa).

6 Gedanken zu „Ist Wikipedia für die Öffentlichkeit oder für Academia?“

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