Narrationen im digitalen Zeitalter

Der folgende Beitrag fasst meine Ausführungen während der Tagung „Das Internet als Raum des historischen Lernens“ noch einmal in geraffter Form zusammen. Er befasst sich mit der Rolle, die Narrationen im digitalen Zeitalter spielen können und fokussiert auf die Situation des web 2.0, das heisst von Weblogs und Wikis.

Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass das Unterfangen, geschichtswissenschaftliche Inhalte als historische Wissen zielgruppengerecht vorbereitet und kontrolliert an die Zielgruppe (also die Lernenden) abzugeben, im Zeitalter des Internets und der ständigen Verfügbarkeit von Informationen aller Art obsolet ist. Wenn die Schüler/innen und Student/innen in der digitalen Wissensgesellschaft bestehen sollen, dann kann es nicht mehr darum gehen, die Inhalte für die Lernenden aufzubereiten, sondern die Lernenden für die Inhalte „fit“ zu machen. Ins Zentrum rückt damit ein kompetenzbasiertes Lernen, das die Befähigung der Lernenden zur selbständigen und reflektierten Auseinandersetzung mit Geschichte zum Ziel hat.

Was heisst das einerseits für die Integration Neue Medien in den Unterricht und andererseits für die Entwicklung von Lernangeboten mit Neuen Medien? Ich bin der Auffassung, dass hier entsprechende Kriterien noch fehlen. Die bereits vorliegenden Vorstellungen und Definitionen von historischen Kompetenzen reichen m.E. nicht aus, um die Bedeutung des grundlegenden Medienwandels in seinen Konsequenzen für das historischen Denken und Lernen zu erfassen.

Wenn wir über Rolle der „Neuen Medien“ (besser vielleicht: digitale Informations- und Kommunikations-Technologien DIKT) in der Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaften nachdenken, dann gilt es, sich über Medialität des historischen Denkens bewusst zu werden – und ebenso über die Historizität des medialen Handelns. Hier sind Erkenntnisse aus der Medientheorie, Medienpädagogik und Mediendidaktik ebenso für die Geschichte nutzbar zu machen, wie umgekehrt Konzepte und Theorien aus der Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik für den Umgang mit Medien.

In diesem Sinn versteht sich das Rahmenkonzept der Historischen Online-Kompetenz als „Scharnier“, um die jeweiligen Fachkompetenzen für einander fruchtbar zu machen – und nicht als „Super-Kompetenz“, welche versucht, die verschiedenen Kompetenz-Modelle zu einer neuen, Kompetenz zu verschmelzen. Die Historische Online-Kompetenz will nicht alle Handlungen, Lern- und Denkprozesse in Geschichtsdidaktik und Medienerziehung abdecken. Sie konzentriert sich auf den medialen Aspekt des historischen Denkens und versucht umgekehrt, den gesellschaftlichen Umgang mit Medien und die gesellschaftliche Bedeutung von Medien mit den Mitteln des historischen Denkens zu beleuchten.

Betrachten wir den Prozess historischen Denkens (oder Lernens) unter dem Aspekt der Medialität, stossen wir auf die zentrale Kategorie der Narration, in der sich historische Sinnbildung niederschlägt. Vereinfacht gesagt: wenn wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen und darin Entwicklungen, Vorgänge, Zusammenhänge erkennen und verstehen, dann speichern wir diese Erkenntnis innerlich als Erzählung ab.

Erst in der medialen Form kann die Narration zum Gegenstand von intersubjektiven Austausch werden: Nur eine öffentlich gemachte Erzählung kann von anderen geprüft, akzeptiert oder verworfen werden. Ohne mediale Form könnten Narrationen weder Gegenstand des individuellen historischen Lernens, noch gesellschaftlicher Auseinandersetzung über die Deutung der Vergangenheit werden. Sowohl die Bildung des Geschichtsbewusstseins als auch die Aushandlung der gesellschaftlichen Geschichtskultur ist medial bedingt. Die narrative Kompetenz, also die Fähigkeit, Narrationen einerseits zu erkennen und zu entschlüsseln und andererseits als Ergebnis eigener historischer Sinnbildung zu erstellen, wäre ohne mediale Ausprägungen der Narrationen nicht erwerbbar und nicht zu erkennen.

Für das Verständnis dieser medialen Dimension des historischen Lernens und für die Bestimmung von Kriterien für den geeigneten Umgang damit ist es meines Erachtens von Vorteil, Modelle der Medienkompetenz nicht nur als „gesonderte“ Kompetenzen zu verstehen, sondern auf den Prozess historischen Denkens und Lernens zu beziehen. Dabei geht es nicht nur um die technisch-instrumentelle Beherrschung der Medien: Computer bedienen, Blogs einrichten, Bücher in der Bibliothek ausfindig machen können. Es geht auch um die Fähigkeit, die unterschiedlichen Codierungen rezipierend und produzierend zu beherrschen und auch ein Verständnis für die gesellschaftswirksamen Mediensysteme zu entwickeln. Hier sind umgekehrt historische Kompetenzen überaus hilfreich: genaues Lesen und Interpretieren unter Rückgriff auf valide Begriffe und Konzepte der Geschichtswissenschaft, deutendes Zusammenfassen und verständliche Darstellung von Sachverhalte in ihrem Werden und Wandel sind wichtige Fähigkeiten in einer Mediengesellschaft, in der jedes Individuum vermehrt selbst zum Subjekt medialen Handelns wird. In jedem Fall ist der reflektierte, also methodisch bewusste und kontrollierte Zugang wichtig genauso wie der reflexive, sich selbst befragende Umgang mit Medien und mit Geschichte.

Gerade wenn es das Anliegen der Geschichtsdidaktik ist, die Lernenden zu eigenständigem historischen Denken und Lernen zu befähigen, ist ja die Überprüfung, ob sie einen kompetenten Umgang bei der Auseinandersetzung mit Narrationen und Quellen beherrschen, nur mittels der Darstellungen zu überprüfen, die sie herstellen: seien dies Wortmeldungen in einer Stunde, Haus- oder Proseminararbeiten oder Edits in einem Wiki oder Einträge in einem Blog.

Dabei sind die medialen Eigenheiten von Weblogs und Wikis im Prozess des historischen Lernens zu berücksichtigen. Blogs sind von geprägt von eine stärkeren konzeptionellen Mündlichkeit als Haus- oder Seminar-Arbeiten, die gewissen formalen Vorgaben folgen müssen. Das ist auch eine Gelegenheit, Zwischenschritte des historischen Sinnbildungsprozesses sichtbar zu machen, setzt aber voraus, dass alle Beteiligten (Leser/innen und Schreiber/innen) bereit sind, sich mit „unfertigen“ Bruchstücken von narrativen Konstrukten auseinanderzusetzen.

In Wikis wird Geschichte kollaborativ geschrieben, das ist eine Form des Schreibens, die in der mono-auktorialen Kultur der Geschichtsschreibung (bei der eine Autorin/ ein Autor für eine Darstellung verantwotlich zeichnet) keine Tradition hat. Doch werden gerade in der Lehre in Gruppenarbeiten sehr oft solche kollaborativen Prozesse sehr bewusst angeregt, um eine Auseinandersetzung der Gruppenmitglieder über ihre jeweiligen Deutungen auszulösen. Bei Wikis wird durch die Editier-Schritte, die auch noch nachträglich nachvollziehbar sind, der Prozess dieser Auseinandersetzung sichtbar gemacht. Das ist in didaktischer, geschichtstheoretischer und medienwissenschaftlicher Hinsicht interessant. Wenn Lernende selber versucht haben, in Wikis zu tragfähigen historischen Darstellungen zu gelangen, und die Prozesse in ihrer historischen und medialen Dimension erkennen und ihr Verhalten darin reflektieren können, sind sie (hoffentlich) auch befähigt, mit in Wikis erstellten Darstellungen, wie zum Beispiel die Wikipedia, kompetent umzugehen.

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